Mrz 142023
 

Eine verpasste Chance für klimaangepasste Waldwirtschaft

Im Gemeindewald Seeheim-Jugenheim wurde kürzlich ein Kahlschlag vorgenommen. Etwa 1,6 ha eines etwa 50-jährigen Bestandes aus abgestorbenen und gesunden Fichten bei Ober-Beerbach wurden komplett vom Harvester “geräumt”. 

Gesunde und abgestorbene Bäume, grünes Astwerk und vitale Zapfen liegen auf einer einstigen Waldfläche oberhalb von Wallhausen.

Seeheim-Jugenheim ist mit dem Beschluss zur Einrichtung eines Runden Tischs auf einem guten Weg, was den zukünftigen Umgang mit dem Gemeindewald betrifft. Der Wald soll durch mehr naturnahe Waldbewirtschaftung auf die kommenden Herausforderungen im Klimawandel vorbereitet und externe Experten zu Rate gezogen werden. Umso mehr erstaunt diese Maßnahme in der Nähe des Schafhofs Drachenhöhle bei Ober-Beerbach, die im Grunde in die entgegengesetzte Richtung weist: Der Kahlschlag ist – und das ist keine neue Erkenntnis – die schädlichste Form der Waldbewirtschaftung. Nicht umsonst wurde im Hessischen Waldgesetz als Kennzeichen ordnungsgemäßer Forstwirtschaft festgelegt, dass Kahlschläge von mehr als 1 ha zu vermeiden sind. 

Die Folgeschäden von Kahlschlägen sind enorm: Es kommt zur Überhitzung der Fläche, zu einer Verarmung des Bodens, Humus- und Nährstoffabbau, Störung des Bodenlebens, Abbau der Feinwurzelmasse und Verlust der Bodenwasserspeicherfähigkeit. Der Wald weicht mit fast all seinen Lebewesen und Ökosystemleistungen auf geraume Zeit einer Steppe. Er wird von einer Kohlenstoffsenke zu einer Quelle von CO2, das in großen Mengen aus dem Waldboden emittiert wird. Der verbleibende Boden erodiert – gerade an Hängen wie unterhalb der Drachenhöhle und bei häufiger werdenden Starkregenereignissen. 

Kahlschläge reduzieren die positive, ausgleichende Wirkung des Waldes für das lokale Klima: Nicht nur wird das Waldinnenklima vollständig zerstört – die großflächige Auflichtung hat auch Auswirkung auf angrenzende Waldstücke, die ihrerseits von Trockenschäden betroffen sein werden. Der Boden wird in seiner Wasserspeicherfähigkeit dramatisch beeinträchtigt und trocknet immer weiter aus. Es kommt zu einem erhöhten Austrag von Stickstoff, und Nitrat kann ins Grundwasser ausgeschwemmt werden. Da der Boden sehr viel weniger Wasser aufnehmen kann, steigt die Hochwassergefahr in Hang-Tal-Lagen. Wird bei solchen Maßnahmen noch viel Waldboden durch den Einsatz schwerer Maschinen verdichtet, erhöhen sich die Auswirkungen auf das Ökosystem um ein Vielfaches.

Wer vor dem Kahlschlag nahe der Drachenhöhle steht, dem wird bewusst, welche Folgeschäden diese in der Brut- und Setzzeit durchgeführte Maßnahme haben wird: Die Fläche ist, abgesehen von ein paar toten Fichten am unteren Rand, komplett geräumt worden. Rückegassen, auf denen sich der tonnenschwere Harvester durch den Waldboden gewühlt hat, liegen dicht beieinander. Das Ausmaß der Bodenverdichtung ist groß. Die Rückegassen verlaufen hangabwärts und wirken so als Entwässerungssystem: Bei Regenfällen wird hier das Wasser ungehindert Richtung Wallhausen und weiter talabwärts geleitet. Etwas weiter unten befindet sich ein Wasserschutzgebiet, das möglicherweise von Ausschwemmungen von Nitrat betroffen sein könnte, und damit auch unser Grundwasser.

Die Räumung der “Käfer-Fichten” in Abteilung 125 des Gemeindewaldes war bereits im Waldwirtschaftsplan 2022 aufgeführt und wurde jetzt umgesetzt.

Nach Ansicht des NABU Seeheim-Jugenheim ist die Gemeinde Seeheim-Jugenheim hier nicht fachkundig und umfassend bezüglich der ökologischen Folgeschäden beraten worden. Auch die finanziellen Folgeschäden werden die Einnahmen, die sich die Gemeinde davon erwartet (laut Waldwirtschaftsplan knapp 17 000 Euro), mit Sicherheit auf längere Sicht gesehen übersteigen: Es fallen Kosten zu Pflanzungen an, die voraussichtlich auf der heiß geschlagenen Fläche zu großen Teilen wieder vertrocknen werden. Es werden weitere Ersatzpflanzungen nötig sein, ein Zaunbau, um die Pflanzen vor Wildverbiss zu schützen. Immer wieder wird die Fläche von den nun aufwachsenden Brombeeren und Gras freigeschnitten werden müssen. Kosten für den Wasserrückhalt und Hochwasserschutz werden sicher anfallen. Möglicherweise trägt diese Maßnahme auch zu Hochwasserschäden bei. (Bei der Ahrflut haben auch oberliegende Fichtenkahlschläge zum erhöhten Abfluss ins Tal beigetragen.) Aus Klimaschutzgründen wäre zudem eine CO2-Kompensationsmaßnahme angeraten, um die enormen CO2-Emissionen aus der Fläche zu kompensieren. Weitere Ausfälle von Ökosystemdienstleistungen müssten aktuellem Wissensstand nach noch hinzugerechnet werden. 

Selbst wenn bei dieser Maßnahme schon bestehende Gassen zur Erschließung bestanden haben, so hätte man bei der engen Anlage der Gassen jede zweite Gasse befahren können und so den anderen Gassen die Möglichkeit zur Regeneration gegeben. Das sieht im Übrigen auch der FSC-Standard vor, nach dem die Wälder der Gemeinde bewirtschaftet werden. Ihm zufolge soll angestrebt werden, nicht mehr als 10% der Holzbodenfläche zu befahren, was einem Abstand der Gassen zueinander von 40 Metern entspricht. Mehr als 13,5% dürfen insgesamt nicht befahren werden. Hier bei Ober-Beerbach wurden sogar 20-Meter-Abstände unterschritten. Da FSC schon 2018 Verstöße gegen die geltenden Richtlinien festgestellt hat und HessenForst Konzepte erarbeiten musste, wie man Bodenschäden minimieren kann, fragt man sich, ob diesbezüglich kein Lernprozess und die im Bericht geforderte Schulung nicht stattgefunden hat (Zitate aus dem Auditbericht: „Für den Betrieb insgesamt fehlt aber ein verbindliches Vorgehen mit schwierigen Fällen auch in der Zukunft. Die Frist für diese Auflage wird einmalig verlängert.“ Und: „Die Bestandserschließung mit Rückegassen ist unverändert in Einzelfällen nicht ausreichend systematisch. Insbesondere der Umgang mit bereits bestehenden alten Gassen, die nicht der langfristigen Zielvorstellung entsprechen, ist nicht sorgfältig genug. Eine bessere Vorplanung für schwierige Fälle ist nötig.“)

Wenn laut Waldwirtschaftsplan “Käfer-Fichten” geerntet werden sollten – warum wurden dann zahlreiche gesunde Bäume gefällt? Das ist nicht nur eine Abweichung vom Waldwirtschaftsplan, sondern auch ökologisch katastrophal.  

Es wurden noch viele gesunde Bäume geschlagen, der Waldwirtschaftsplan sprach von „Käfer-Fichten“ und „Kalamität-Pflegenutzung“.

Das zuständige Forstamt Darmstadt kannte die Beschlüsse der Gemeindevertretung, neue Wege einzuschlagen und Strategien für eine nachhaltige, naturverträgliche und klimaangepasste Waldbewirtschaftung zu entwickeln. Wir hätten daher erwartet, dass das Forstamt Darmstadt die Gemeindevertreter spätestens vor diesem Hintergrund noch einmal umfassend über Umfang und Ausmaß der Maßnahme, deren Umweltverträglichkeit und Folgeschäden informiert, um evtl. eine alternative Form der Durchführung zu diskutieren. Mittlerweile hat die Wissenschaft sehr genau dargestellt, was die Folgeschäden solcher Maßnahmen im Klimawandel sind – und welche Vorteile es hat, auch tote Bäume stehen zu lassen, ganz zu schweigen von gesunden Bäumen, von denen es noch zahlreiche auf dieser Fläche gegeben hat. Dass auch tote Bäume zu Kühlung, Beschattung und Naturverjüngung ähnlich viel beitragen wie vitale Bäume, zeigen aktuelle Studien – und dass es auch ökonomische Vorteile bringt, sie nicht abzuräumen.

Viele Waldbesitzer haben seit der Räumung vieler Flächen in den Jahren 2018-2020 dazu gelernt und wissen, dass der Aufwuchs einer neuen Vegetation in heißen und trockenen Sommern erschwert ist. Die Überhitzung der Fläche spielt dabei eine zentrale Rolle. HessenForst zieht andernorts die Reißleine und lässt tote Käferfichten stehen. 

Die Temperaturdifferenz von abgeräumten und intakten Waldflächen kann bis zu 20°C betragen. Abgestorbene Bäume kühlen die Fläche weiterhin. In ihrem Schutz kann sich ein neuer Wald entwickeln.

Quelle: Ibisch et al: Der Wald in
Deutschland
auf dem Weg in die
Heißzeit
Vitalität und Schädigung in den
Extremsommern 2018-2020
, Bilder: Greenpeace

Da seitens FSC empfohlen wird, sich bei konkreten Fragen an den zuständigen Forstbetrieb zu wenden, hat der NABU versucht, eine Stellungnahme des Forstamts Darmstadt zu den Fällungen einzuholen und konkrete Fragen zu der Maßnahme gestellt (siehe grauer Kasten), um die Sicht des Forstamts in diesem Bericht zu berücksichtigen und zu erfahren, wie man weiter mit der Fläche umgehen wird. Auf Antworten zu diesen Fragen und auf eine Stellungnahme seitens HessenForst wurde verzichtet und zu den Hintergründen der Maßnahme auf die Verantwortlichkeit der Gemeinde verwiesen, der unsere Anfrage ebenfalls zuging. Da Anfragen an die Gemeindeverwaltung erfahrungsgemäß erst nach Monaten oder gar nicht beantwortet werden, haben wir mit der Veröffentlichung dieses Berichtes nicht gewartet. Das sind wir nicht nur dem Wald, sondern auch den Bürgern schuldig, die diesen Einschlag an den NABU gemeldet haben. Wir hoffen, dass im Rahmen des Runden Tischs gemeinsam Alternativen zu dieser Form der Waldbewirtschaftung gefunden und Leitlinien entwickelt werden können, die effektiver und verlässlicher als der FSC-Standard eine naturnahe Waldbewirtschaftung sicherstellen.


Wie könnte nun ein aus unserer Sicht sinnvoller Umgang mit abgestorbenen Fichtenflächen aussehen? 

Um Bodenschäden durch zu starke Befahrung zu vermeiden, sollte der Rückegassenabstand von 40 m auf keinen Fall unterschritten werden. Alte Gassen, die diesen Abstand unterschreiten, dürfen nicht mehr befahren werden. Wichtig ist, dass die geltenden Gassen sichtbar markiert werden (am besten werden die Randbäume in zwei Meter Höhe abgeschnitten und markiert), damit nicht, wenn in Jahrzehnten wieder Bäume entnommen werden sollen, neue Rückegassen abseits der Alten angelegt werden, die zu weiteren Bodenschäden führen. In Reichweite des Harvesters können dann Fichten aufgearbeitet werden. Reisig und Kronenteile sollten auf diesen abgeernteten Flächen verbleiben, um die Bodenfruchtbarkeit zu erhöhen und um Rehwild fernzuhalten. Dieser zehn Meter breite Streifen (so weit kommt ein Harvester in der Regel mit seinem Arm), kann dazu genutzt werden, Lichtbaumarten wie Eichen in kleinen Trupps zu pflanzen. Aus Kostengründen, aber auch um die positiven Wirkungen der natürlichen Wiederbewaldung zu nutzen, sollten stets nur kleine Teilflächen, im Umfang von nicht mehr als 15% bepflanzt werden. Das reicht, wie vielfältige Erfahrungen, beispielsweise aus Rheinland-Pfalz, zeigen, aus, um diese Streifen wiederzubewalden. Die Zwischenfelder, in denen der Harvester nicht an die Stämme kommt, bleiben die Fichten stehen. Im Schutz der abgestorbenen Fichten, die weiterhin Schatten spenden, kann man dann beispielsweise Buchen einbringen. Auf diese Art ergibt sich ein Mosaik aus bearbeiteten Streifen und abgestorbenen Fichten, die zunächst stehen bleiben und dann nach ihrem Umfallen eine Art natürlichen Verbissschutz bilden. So ein Vorgehen ist zwar leider noch nicht die Regel, wird aber beispielsweise bei den niedersächsischen Landesforsten im Harz praktiziert. Natürlich kann man nicht mehr alle Wirkungen eines intakten Waldes erreichen, aber immerhin werden die Auswirkungen des Absterbens gegenüber dem Kahlschlagen stark abgemildert. (Nach einem Vorschlag von Gerald Klamer, Diplom-Forstwirt)

Die schonendere Methode und wesentlich naturnähere Methode ist es, einen Großteil der alten, sterbenden Bäume stehen zu lassen, motormanuell einzelne Bäume zu ernten, die Naturverjüngung ihren Job machen zu lassen und/oder in die Lücken gewünschte heimische und standortgerechte Baumarten zu pflanzen. Diese Vorgehensweise praktiziert beispielsweise erfolgreich die Forstbetriebsgemeinschaft Saar-Hochwald.

Die Erfahrungen aus den Kernflächen des Nationalparks Bayerischer Wald und aus dem Nationalpark Sächsische Schweiz zeigen, dass aus toten Fichtenreinbeständen ein artenreicher Mischwald entstehen kann, wenn man gar nicht eingreift.

Nationalpark Sächsische Schweiz: Im Schatten der abgestorbenen Fichten entwickelt sich ganz natürlich und kostenlos ein artenreicher Mischwald.

FSC empfiehlt, sich mit konkreten Fragen an das zuständige Forstamt zu wenden. Für den Seeheim-Jugenheimer Gemeindewald ist das Forstamt Darmstadt zuständig.

Fragen des NABU Seeheim an HessenForst (verkürzte Form)

  • Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um diesen Kahlschlag zu vermeiden? 
  • Die Bodenverdichtung ist auf dieser Fläche übermäßig hoch. Weshalb wurden bei dieser Maßnahme die laut FSC-Richtlinien anzustrebenden höchstens 10% Bodenbefahrung (das entspricht einem Abstand von 40 Metern) nicht berücksichtigt, um Waldboden zu schonen? 
  • Sind in dieser Fläche alte Gassen befahren worden und/oder wurden neue angelegt? Wenn alte Gassen befahren wurden, weshalb wurden nach FSC-Standard überflüssige Gassen nicht stillgelegt?
  • In welchem Zeitraum wurde die Maßnahme durchgeführt?
  • Neben vom Borkenkäfer befallenen Fichten wurden auch zahlreiche gesunde Fichten gefällt. Bei der Bezeichnung der Maßnahme in Abteilung 125 wurde im Waldwirtschaftsplan 2022 von “Käfer-Fichten” gesprochen. Weshalb wurden auch in großem Ausmaß gesunde Bäume ohne Befall geschlagen? 
  • Durch die flächige Räumung wurden potenzielle Habitatbäume von der Fläche entfernt. Werden Sie die von FSC geforderten 10 Habitatbäume pro Hektar an anderer Stelle auszeichnen und weitere Brutmöglichkeiten für Vögel schaffen? 
  • Wieviel Totholz wird auf der Fläche belassen?  
  • Welche Maßnahmen werden ergriffen, um das Anwachsen von Bäumen zu sichern?
  • Welche Maßnahmen werden ergriffen, um ein Hochwasserrisiko durch oberflächlichen Regenwasserabfluss Richtung Wallhausen abzumildern?
  • Wurden ökologische Folgeschäden bei der Maßnahme berücksichtigt?
  • Wie hoch schätzen Sie die Folgekosten der Maßnahme für die nächsten 40 Jahre ein?

In seiner Antwort auf die Anfrage des NABU hat Forstamtsleiter Müller jegliche Stellungnahme zu den Fragen des NABU abgelehnt und verweist auf die Verantwortlichkeit der Gemeinde.

Bericht: Gunnar Glänzel und Yvonne Albe

Bilder: Yvonne Albe

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