Im Frühjahr diesen Jahres hat der NABU Seeheim-Jugenheim e.V. die Gemeinde Bickenbach und deren Forstdienstleister HessenForst darauf hingewiesen, dass der Gemeindewald bei Forstarbeiten stark in seiner Funktion beeinträchtigt wurde. Bei einem gemeinsamen Waldbegang mit dem Zertifizierer PEFC wurde deutlich, dass der Hauptkritikpunkt des NABU, die übermäßige Bodenverdichtung durch Maschinen, nicht mit den Richtlinien des PEFC-Standards vereinbar war. Zwei von fünf vom NABU kritisierten Punkten wurde als Abweichung gewertet.
Bei einem Gespräch zwischen Mitgliedern des Gemeindevorstandes Bickenbach, Bürgermeister Hennemann und Mitgliedern des NABU Seeheim-Jugenheim e.V. Anfang Juni wurde über die bisherige Behandlung des Waldes, das Miteinander zwischen der Gemeinde und dem Naturschutzbund und zukünftige Lösungsansätze gesprochen. Dabei wurde der NABU gebeten, seine Vorschläge zur zukünftigen Waldbehandlung in einem Leitlinien-Papier zu erarbeiten und der Gemeinde vorzulegen. Wir haben dieses Angebot, uns konstruktiv mit konkreten Lösungsvorschlägen einzubringen, gerne genutzt. Denn da sich der Gemeindewald in einem sehr schlechten Zustand befindet, müssen alternative Formen zur bisherigen Waldbehandlung gefunden werden, um den Wald zu stabilisieren.
Nachfolgend finden Sie eine Zusammenfassung unseres 10-Punkte-Papiers sowie die Ausführungen der einzelnen Leitlinien. Diese Leitlinien wurden am 18.8.2022 an den Bürgermeister sowie Mitglieder des Gemeindevorstandes und Gemeindevertretung übermittelt.
Zusammenfassung
Der Zustand der 140,6 ha Gemeindewald ist prekär. Eine weitere Verschlechterung steht aufgrund zahlreicher Stressfaktoren zu befürchten. Während der Stress durch äußere Faktoren (Makroklima wie Hitze und Trockenheit, Schadstoffeinträge und Zerschneidungen) direkt nicht gemindert werden kann, kann deren Wirkung durch die Reduktion innerer Stressfaktoren abgemildert werden. Waldinterne Stressfaktoren können durch die Waldbewirtschaftung entstehen (vor allem Fällungen und Entfernen des Holzes aus dem Ökosystem, Räumung von Schadflächen, zu starke Durchforstung, ungeeignete Pflege, Einsatz von schwerem Gerät und Pflanzung ungeeigneter Baumarten) – aber auch durch Rehverbiss infolge zu hoher Wildbestände. Das Ziel einer neuen Waldmanagementstrategie muss es sein, diese direkt beeinflussbaren, inneren Stressfaktoren zu reduzieren, um die Widerstandsfähigkeit und Selbstheilungskräfte des Waldes zu erhöhen. Denn ein komplexes Ökosystem wie der Wald kann unter zunehmendem Stress durch äußere Faktoren nur durch selbsterhaltende Kräfte überleben, und daher müssen diese Kräfte zwingend gestärkt werden. Die folgenden Handlungsempfehlungen ergeben sich aus diesem übergeordneten Ziel, dem Schutz und der Stärkung des Waldes als Ökosystem.
Leitlinie 1: Bis auf Weiteres stark reduzierte Holzernte (Steigerung des Holzvorrats im Wald). Reduktion von Fällungen auf ein unverzichtbares Minimum (Verkehrssicherung). Läuterung, Pflege und Durchforstung werden bis auf absolut notwendige Ausnahmen ausgesetzt.
Leitlinie 2: Zum Schutz eines intakten Waldinnenklimas wird das Kronendach geschlossen gehalten und die Beschattung gefördert. Bestehende Waldränder werden naturnah strukturiert, neue Waldränder und Zerschneidungen werden vermieden. Das Wegenetz wird dort, wo es möglich ist, zurückgebaut.
Leitlinie 3: Vorrang der natürlichen Verjüngung standortheimischer Baumarten, besonderer Schutz/Förderung von Sämlingen dieser Arten. Nur dort, wo diese nach Dichte und Zusammensetzung nicht ausreicht, ggf. ergänzende Saat dieser Arten (nur, wenn diese nicht möglich oder sinnvoll ist, auch durch Pflanzung). Gezieltes und bedachtes Zurückdrängen konkurrierender Pflanzen, v.a. invasiver Arten mit handgeführter Technik. Erstellung und Umsetzung eines neuen Jagdkonzepts mit dem Ziel der Reduktion von Verbissschäden.
Leitlinie 4: Förderung naturnaher und standortangepasster Baumartenzusammensetzung. Dort, wo sich in absehbarer Zeit keine naturnahe Baumartenzusammensetzung von allein etablieren wird, sollte aktiv eingegriffen werden (Unterstützung Naturverjüngung, Saat, Pflanzung). Gezieltes, systematisches und Zurückdrängen invasiver Arten nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Leitlinie 5: Erhaltung und Wertschätzung vielfältiger natürlicher Strukturen (verschiedene Baum- und Pflanzenarten unterschiedlichster Altersklassen einschließlich Krank- und Totholz) und Entwicklungsprozessen des Waldes (Anfangs-, Übergangs- und Schlußwald, Optimal-, Alters-, Plenter-, Verjüngungs- und Zerfallsphase). Insbesondere ältere Bäume werden nicht mehr gefällt. Ziel eines Holzvorrats von min. 70% bis 80% des natürlichen Vorrats. Keine Räumung von Schadflächen.
Leitlinie 6: Förderung der biologischen Vielfalt und der Vernetzung von Lebensräumen durch mehr Habitatbäume, ggf. künstliche Nistmöglichkeiten für Fledermäuse und Vögel. Es werden keine Waldarbeiten innerhalb der Brut- und Setzzeit durchgeführt und keine Pestizide eingesetzt. So wenig Mahd von Wegrändern wie möglich; verstärkter Schutz besonderer Arten; Erarbeitung und Umsetzung eines Biotopverbundkonzepts.
Leitlinie 7: Förderung der Versickerung (Infiltration) von Regen- und Fließwasser; Förderung von Infiltration begünstigenden Baumarten; Totholz als Wasserspeicher; Prüfung der Möglichkeiten der Infiltration aus Kläranlagen.
Leitlinie 8: Förderung der Beziehung der BürgerInnen zum Wald und der Umweltbildung durch die Erschließung des Gemeindewaldes zum Beispiel mit Waldlehr- und Erlebnispfaden, die Kennzeichnung besonderer Bäume, Abteilungsschildern mit Flurnamen oder Wegebezeichnungen; Einbindung von Schulen und Kindergärten; erholungsorientierte Besucherlenkung; bessere Aufklärung über waldtypische Gefahren; Angebote moderner Waldpädagogik.
Leitlinie 9: Mehr Bodenschutz durch weniger Befahrung mit Maschinen. Es werden keine neuen Rückegassen mehr angelegt. Gassen, die einen Mindestabstand von 40 Metern unterschreiten, werden stillgelegt. Ein nachhaltiges Konzept für die Bodenschonung wird entwickelt.
Leitlinie 10: Regelmäßige Erhebung von Daten, die notwendig sind, die Umsetzung und ggf. Anpassung des Leitbilds zu messen. Experten werden eingebunden; wissenschaftsbasierte Umsetzung und Weiterentwicklung im Einklang mit aktuellem Stand der forstwissenschaftlichen Forschung; keine Umsetzung von Maßnahmen durch externe Unternehmer mehr.
1. Einleitung
Der Gemeindewald Bickenbach umfasst 140,6 ha. Der Zustand des Gemeindewaldes ist prekär. Eine weitere Verschlechterung steht aufgrund zahlreicher Stressfaktoren zu befürchten. Auch wenn diese Stressfaktoren meist miteinander in Verbindung stehen und sich oft gar gegenseitig verstärken, ist es sinnvoll, sie systematisch und zunächst getrennt voneinander zu betrachten. Dabei bietet sich die Unterscheidung in äußere und innere Stressfaktoren an. Äußere Stressfaktoren sind solche, auf die man vor Ort kaum direkten Einfluss nehmen kann. Innere Stressfaktoren entstehen hingegen vor Ort, und ihr Management kann die Widerstandsfähigkeit des Waldes gegen Stress von außen beeinflussen.
Zu den äußeren Stressfaktoren zählen vor allem Makroklima (Hitze, Trockenheit, Sturm, auch in Wechselwirkung mit biotischen Interaktionen, wie etwa Schädlingen und invasiven Arten), Schadstoffe (Bodenversauerung, Stickstoff etc.) und Zerschneidungen (Bebauung, Straßen, Energietrassen, Windwurf etc.). In Kombination führt all das zu einem starken Stress für den Gemeindewald Bickenbach.
Die Wirkung externer Stressfaktoren kann gemindert werden, indem interne Stressfaktoren reduziert werden. Dazu zählen: Die Räumung von Störungsflächen, die Pflanzung oder Förderung nicht-standortheimischer Baumarten, v.a. von Nadelbäumen, der Verbiss von Jungwuchs insb. durch Rehwild, die konventionelle Pflege, die Holzernte und vor allem die Fällung von Altbäumen >140 Jahren sowie Entfernung von Totholz aus dem Ökosystem, die zu dichte Anlage von Waldwegen und Rückegassen sowie deren Befahrung mit schwerem Gerät sowie Fäll- und Rückeschäden.
All das führt zu zahlreichen, komplex miteinander und mit externen Stressfaktoren in Wechselwirkung stehenden Schäden im Wald: Das Waldinnenklima wird vor allem durch Räumung, „Pflege“ und damit einhergehende Kronenauflichtung gestört: (Zu viel) Licht, Hitze und Trockenheit ziehen ein, der Wasserhaushalt leidet, wann immer Holz aus dem Wald entnommen wird, sei es durch „Pflege“, Ernte oder Räumung. Gleichzeitig schwindet für zahlreiche Arten der Lebensraum, die Artenvielfalt wird reduziert, und für das Ökosystem als Ganzes lebenswichtige Symbiosen zwischen Flora und Fauna können nicht mehr funktionieren. Im Boden schwindet die Artenvielfalt durch Befahrung und Verdichtung ebenfalls, die Wasseraufnahme- und Haltefähigkeit nimmt ab, das Mykorrhiza-Netzwerk wird geschädigt, und es kann kein Austausch von Wasser und Nährstoffen mehr im Boden stattfinden.
All das kann hier einleitend zunächst nur angerissen werden, wird aber deutlicher, wenn in Abschnitt 3 im Rahmen von Leitlinien und Handlungsempfehlungen1 auch Mittel und Wege gegen diese inneren Stressfaktoren empfohlen werden. Hier reicht zunächst der Hinweis darauf, dass das vorrangigste Ziel darin liegen muss, die Widerstandsfähigkeit (Resistenz) und die Selbstheilungskräfte (Resilienz) des Waldes so gut wie möglich zu erhalten und/oder wiederherzustellen.
2. Ziele, Zielkonflikte und Priorisierung
In der Forsteinrichtung von 2016 sind fünf Zielsetzungen der Waldbewirtschaftung ihrer Priorisierung nach in folgende Reihenfolge gebracht worden:
1. Schutz- und Erholungsfunktionen (außerordentlich wichtig),
2. Holzproduktion (wichtig).
3. Finanzieller Nutzen (wichtig) mit dem Ziel: „Bestreben nach einem ausgeglichenen Betriebsergebnis unter evtl. Inkaufnahme eines minimalen Defizits zugunsten der Hauptfunktionen“.
4. Bewirtschaftung ausschließlich durch Unternehmer.
5. Keine nennenswerten Abstriche zugunsten der jagdlichen Nutzung.
Wie einleitend betont, muss es in der Zukunft primär um den Erhalt des Waldes gehen und dieses Ziel folglich an oberster Stelle stehen – die Zukunft des Waldes steht „auf Messers Schneide“: Es zeichnen sich bereits deutlich sichtbar selbst verstärkende Zerfallsprozesse ab, die kurz- bis mittelfristig auch mit erheblichem Aufwand nicht mehr aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen sind. Die Folge sind Verbuschung und Versteppung, also ein Totalverlust des Waldes, im Zuge dessen auch keine der zahlreichen anderen Ziele der Waldbewirtschaftung mehr erreichbar sein werden. Um dem entgegenzuwirken, ergibt sich folgendes Leitbild:
1. Alle 140,6 ha des Gemeindewaldes Bickenbach bleiben dauerhaft erhalten oder werden im Idealfall ausgeweitet (Entsiegelung, Renaturierung).
2. Der Gemeindewald besteht aus biologisch vielfältigen und funktionsfähigen, naturnahen Waldökosystemen, denn nur als intaktes Ökosystem kann er dauerhaft erhalten bleiben.
3. Der Gemeindewald ist stabil und anpassungsfähig, weil das komplexe Ökosystem Wald sich auf Dauer nur „selbst helfen“ kann und dafür Resistenz und Resilienz benötigt, insbesondere im Klimawandel.
4. Der Gemeindewald erbringt heute und künftig für die Menschen unverzichtbare Ökosystemdienstleistungen (Erholung, Kühlung, Feuchtigkeit, Artenvielfalt, ggf. auch wieder Holz).
Aus diesem allgemeinen Leitbild ergibt sich eine Zielkaskade, also eine Priorisierung konkreter Anforderungen an den Wald bzw. Funktionen des Waldes. Nicht jede dieser Funktionen kann immer gleich stark erfüllt werden. Im Gegenteil muss in den meisten Fällen eine Funktion unerfüllt bleiben, um eine andere zu erfüllen; andererseits begünstigen sich viele Funktionen auch gegenseitig, was man sich bei der Waldbewirtschaftung zunutze machen sollte. Entsprechend der Priorisierung der vier Bestandteile des Leitbildes ergibt sich diese Zielkaskade für den Gemeindewald Bickenbach wie folgt:
1. Ökosystemschutz
2. Bodenschutz
3. Artenschutz
4. Temperatur- und Feuchtigkeitsregulierung
5. Grundwasserfunktion
6. Walderholung, Gesundheit, Tourismus, etc.
7. Klimaschutz und Kohlenstoffbindung
8. Roh- und Brennholzversorgung
Abb. 1: Disharmonische Zielsetzungen im Wald
Abb. 2: Zielkaskade definieren
3. Leitlinien/Handlungsempfehlungen
Leitlinie 1: Bis auf Weiteres stark reduzierte Holzernte
Die Entnahme von Bäumen aus dem Bestand widerspricht sieben der acht der Ziele der oben definierten Zielkaskade. Um dauerhaft den Holzvorrat zu steigern (“Holz wächst nur an Holz”, s. Leitlinien 2 und 5) und die lokalen Ökosysteme zu stärken, sollten Bäume nur in Ausnahmefällen gefällt und entnommen werden. Daraus ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen:
1.1 Fällungen müssen auf ein rechtlich zwingend gebotenes Minimum (Verkehrssicherung) reduziert werden.
1.2 Läuterung, Pflege, Durchforstung und Ähnliches wird ausgesetzt bzw. ebenfalls auf absolut notwendige Ausnahmen beschränkt, die nur im Einklang mit hier definierten Leitlinien vorgenommen werden sollen. Darüber sollte in einem einzurichtenden Gremium entschieden werden.
1.3 Holzernte (also Verkauf von Holz) findet nicht mehr statt, bis die nötige Naturnähe und Stabilität des Waldes wieder hergestellt ist. Sollten Verkehrssicherungsmaßnahmen nötig werden, verbleibt das Holz in aller Regel im Wald und trägt zu Artenvielfalt, Wasserhaushalt, Humusbildung, Naturverjüngung (natürlicher Verbissschutz) und vielem mehr bei.
Leitlinie 2: Schutz des Waldinnenklimas
Resistenz und Resilienz basieren vor allem auf einem intakten Waldinnenklima; ein relativ kühles und feuchtes Klima ist das wichtigste Element, wenn es darum geht, alle anderen Funktionen der Waldökosysteme zu erfüllen: Vor allem nachhaltige und widerstandsfähige Zunahme des Holzvorrats, Naturverjüngung, Feuchtigkeit, Kühlung und Artenvielfalt. Handlungsempfehlungen umfassen vor diesem Hintergrund:
2.1 Keine Öffnungen des Kronendachs mit Ausnahme notwendiger Verkehrssicherungsmaßnahmen gemäß 1.1
2.2 Jede Art der Beschattung ist zu fördern und wird nicht entfernt, ggf. mit Ausnahme invasiver Neophyten (Götterbaum, Robinie, Spätblühende Traubenkirsche), wo dies sinnvoll und notwendig ist.
2.3 Bestehende Waldränder werden naturnah strukturiert (durch Waldmäntel aus Sträuchern, die das Waldinnenklima nach außen abschirmen); neue Waldränder werden möglichst vermieden, denn Ränder beeinträchtigen bis zu 100 m in den Wald hinein das Innenklima.
2.4 Es wird geprüft, ob alle Wege im Wald notwendig sind, und unnötige Wege werden rückgebaut.
Leitlinie 3: Förderung der natürlichen Verjüngung
Die Naturverjüngung (Nachwuchs an Bäumen direkt aus Samen lokaler Bäume) verspricht für kommende Waldgenerationen die besten Zukunftschancen und muss oberste Priorität haben. Denn Nachwuchs aus Naturverjüngung ist genetisch an den Standort angepasst und wird zudem von „Mutterbäumen“ nicht nur durch Beschattung, sondern tatsächlich auch stofflich unterstützt. Um diesen „Königsweg“ der nachhaltigen Waldbewirtschaftung zu begehen, empfehlen sich folgende Handlungsleitlinien:
3.1 Es werden standortspezifische Listen geeigneter standortheimischer Baumarten (vor allem heimische Laubbaumarten wie Eichen, Hainbuche, Winter-Linde, Feld- und Spitz-Ahorn, Elsbeere) erstellt (siehe Leitlinie 8) und die Naturverjüngung dieser Arten unter besonderen Schutz gestellt. Auch heimische Pionierbaumarten (Weiden, Espen, Birken) und Sträucher werden belassen.
3.2 Bei zu wenig Naturverjüngung oder bei Nichtvorhandensein der gelisteten Arten in der Umgebung kann und soll der Aufbau standortheimischer, vielfältiger Wälder unterstützt werden, idealerweise durch Saat (Hähersaat) bzw. im Ausnahmefall auch durch Pflanzung, hier wiederum im Idealfall Pflanzung lokal gewonnener Wildlinge anstatt von Baumschulpflanzen. Hierbei sind vorausschauend Klimawandel und andere Stressfaktoren sowie absehbare ökologische Risiken zu berücksichtigen.
3.3 Konkurrierende Pflanzen, vor allem invasiver Arten wie der Götterbaum, die Robinie und die Spätblühende Traubenkirsche, sollten bevorzugt dort zurückgedrängt werden, wo die Naturverjüngung gefördert werden soll. Dabei darf nur leichte, handgeführte Technik eingesetzt werden.
3.4 Es wird ein effektives Jagdkonzept erarbeitet und umgesetzt, denn das größte Problem der Naturverjüngung ist der Rehverbiss.
Leitlinie 4: Förderung naturnaher Baumartenzusammensetzung
Wie bereits mehrfach betont, sind standortheimische Baumarten und auch Baumindividuen an ihren Standort angepasst und damit am besten gegen Stress gewappnet und mit Selbstheilungskräfte ausgestattet. Zudem entwickelt sich in naturnahen Wäldern auch eine standortspezifische Vielfalt an Baumarten und innerhalb der Arten an Genotypen. Vor allem im Vergleich mit Monokulturen standortfremder Arten weist diese multiple Vielfalt insgesamt deutlich höhere Widerstandsfähigkeit gegen Stress und bessere Selbstheilungskräfte auf. An einigen Stellen im Gemeindewald wird sich in absehbarer Zeit jedoch keine naturnahe Baumartenzusammensetzung mehr von allein etablieren, weil durch die langjährige Einwirkung interner und externer Stressfaktoren das Ökosystem destabilisiert ist – an diesen Stellen sollte aktiv eingegriffen werden (analog zu Leitlinie 3.2). Handlungsempfehlungen ergeben sich wie folgt:
4.1 Grundsätzlich ist durch Einhaltung von Leitlinie 3 (Naturverjüngung) bereits sichergestellt, dass nur Baumarten (nach)wachsen, die den natürlichen Waldgesellschaften im Gemeindewald Bickenbach entsprechen. Andere Baumarten werden grundsätzlich nicht eingebracht; und es werden durch natürliche Prozesse wachsende Arten belassen, auch wenn sie nicht zu den primär zu fördernden Arten (Leitlinie 3.1) zählen, etwa Pionierbaumarten wie Salweide, Birke oder Zitterpappel.
4.2 Das Einbringen heimischer Baumarten aus anderen Gebieten (z. B. Rotbuche aus Polen) ist (auch rechtlich) zu prüfen. Das Einbringen von Baumarten, die zwar in (Mittel-)Europa heimisch, aber nicht regionaltypisch sind (z.B. Esskastanie, Flaumeiche, Zerreiche) kann nach dem Prinzip der vorausschauenden Anpassung nach einer ausführlichen Abwägung der Chancen und Risiken eine Ergänzung der heimischen Baumarten darstellen. Vom Einbringen von Baumarten aus anderen Erdteilen ist grundsätzlich abzusehen.
4.3 Invasive Arten und/oder Neophyten wie Götterbaum, Spätblühende Traubenkirsche und Robinie sollten zurückgedrängt werden. Dabei sollte maßvoll und mit Sachkenntnis vorgegangen werden, weil einfaches motormanuelles Abschneiden der Bäume/Triebe oft zu erneutem Austreiben führt (Stockausschlag) und damit das Problem zunächst eher verschlimmert. „Rabiatere“ Verfahren wie Ausreißen der Pflanzen oder gar Mulchen ganzer Flächen ist nicht mit der schonenden Herangehensweise, die hier insgesamt angeraten wird, oder auch mit einzelnen primären Zielen, wie etwa dem Bodenschutz, vereinbar. Dennoch ist insgesamt das Management invasiver Arten eines der drängendsten Probleme im Gemeindewald. Hierfür braucht es mehr Daten und Know-how.
Leitlinie 5: Hohe Vielfalt natürlicher Strukturen und Waldentwicklungsprozessen
Vielfältige Strukturen (verschiedene Baum- und Pflanzenarten unterschiedlichster Altersklassen einschließlich Krank- und Totholz) mit allen Waldentwicklungsphasen (Anfangs-, Übergangs- und Schlusswald, Optimal-, Alters-, Plenter-, Verjüngungs- und Zerfallsphase) in natürlichen Anteilen erhöhen die Stabilität und Resilienz des Waldökosystems. So bieten sie zahlreichen Tier- und Pflanzenarten ein Habitat und erhöhen zudem den Erlebnis- und Erholungswert. Im Gemeindewald sind nach der letzten Forsteinrichtung (S. 7) die Altersklassen über ALK VI (älter als 120 Jahre) „nur gering vertreten”. Alte, dicke, für die Stabilität des Ökosystems Wald und die Kohlenstoffbindung besonders wertvolle Bäume sind demnach stark unterrepräsentiert, so dass deren Anteil erhöht werden muss. Als Teil vielfältiger Strukturen ist außerdem Totholz in allen Zerfallsphasen und sowohl liegend als auch stehend notwendig, denn nahezu jede Tier-, Pflanzen- und Pilzart, die von Totholz lebt, ist auf eine bestimmte Art Totholz spezialisiert und davon abhängig. Zudem speichert Totholz Wasser wie ein Schwamm und wird schließlich zu Humus im Waldboden, der ebenfalls Wasser und Nährstoffe speichert und Kohlenstoff bindet: „Im Gegensatz zur manchmal geäußerten Meinung zeigen tote Bäume also keineswegs einen ‚toten Wald‘ an, sondern sind ein wichtiger Bestandteil eines lebendigen Waldökosystems.“ (Bericht des Runden Tisches zum Stadtwald Darmstadt, S.24).
Folgende Handlungsempfehlungen ergeben sich aus dem Gesagten:
5.1 Alle Waldentwicklungsphasen werden zugelassen und wertgeschätzt, vor allem auch die Alters-, Plenters-, Zerfalls- und Verjüngungsstadien.
5.2 Grundsätzlich werden ältere Bäume (über 120 Jahre) nicht mehr gefällt.
5.3 Es wird ein Minimalprinzip eingeführt: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Grundsätzlich ist jede Maßnahme im Wald auf ihre Notwendigkeit für ein strukturreiches Ökosystem hin zu prüfen und zu begründen.
5.4 Im Gemeindewald sollen künftig 10% der Fläche als Referenzflächen (rechtlich dauerhaft gesicherte und der Forschung zur Verfügung stehende stillgelegte Flächen) ausgewiesen werden, um Zielwerte u.a. für Holzvorrat und Totholz zu ermitteln und zu überprüfen.
5.5 Angestrebt werden soll, den Holzvorrat dauerhaft auf mindestens 70% bis 80 % des natürlichen Vorrats entsprechender Standorte (Referenzfläche) anzuheben. Die nachhaltige Anhebung des Holzvorrats soll bei allen waldbaulichen Entscheidungen eine wichtige Zielsetzung sein.
5.6 Totholz wird im Gemeindewald nicht entfernt, sondern in den Beständen belassen, bis ein festzulegender Zielwert (Anteil Referenzfläche) erreicht ist.
5.7 Bereits heute gibt es im Gemeindewald erste Flächen mit hohen akuten Baumschäden bis hin zu flächigen Zerfallsphasen. Während sie konventionell geräumt wurden (Entfernung von Schad- und Totholz, gegebenenfalls Bodenbearbeitung und Neubepflanzung), wird künftig natürlichen Prozessen Raum gegeben (Sukzession). Dieser Prozess kann, wo erforderlich, durch unterstützende, kleinteilig abgestimmte Maßnahmen gefördert werden (siehe Leitlinien 3 und 4).
Leitlinie 6: Die biologische Vielfalt wird gefördert und die Vernetzung von Waldlebens- sowie Landschaftsräumen verbessert.
Es wird oft unterschätzt, wie entscheidend Artenvielfalt für die Stabilität der Waldökosysteme ist; sie erhöht maßgeblich die Anpassungsmöglichkeit an sich verändernde Klimabedingungen. Biodiversität umfasst drei Ebenen: Erstens eine natürliche Vielfalt von Arten, neben Bäumen auch eine unübersehbare Zahl an Pflanzen, Tieren, Pilzen und Mikroorganismen. Zweitens auch eine Vielzahl an genetischen Typen (Genotypen) unterhalb der Artebene; ganz besonders wichtig ist eine hohe Vielfalt an lokal angepassten Genotypen der Baumarten. Drittens zählt zur Biodiversität eine Vielfalt an standortangepassten Waldökosystemen, also eine Vielzahl als „Systemen im System“, z.B. unterschiedliche Waldgesellschaften und Ökosysteme von Sonderstandorten. Wichtig ist hinsichtlich der Biodiversität nicht eine möglichst große Zahl an Arten, sondern das Vorkommen von solchen, die für das natürliche lokale Ökosystem Wald am jeweiligen Standort typisch sind. Dazu braucht es eine Vernetzung von Wäldern mit ausreichenden Korridoren mit Wanderungsmöglichkeit für Arten.
Handlungsempfehlungen:
6.1 Es werden mehr Habitatbäume ausgezeichnet und als solche geschützt; Zielgröße sind 15 Habitatbäume/ha.
6.2 So lange der derzeitige Mangel an Habitatbäumen/Baumhöhlen noch nicht behoben ist, sollten künstliche, sichere Nistmöglichkeiten für Fledermäuse, Singvögel und Eulen angelegt werden.
6.3 Fällungen, Pflege, Läuterungen und Durchforstungen erfolgen nur ausnahmsweise (siehe 1.1 und 1.2) und außerhalb der Brut- und Setzzeit.
6.4 Es gibt keinen Einsatz von Pestiziden, gemäß Nr. 19 des Maßnahmenprogramms „25 Schritte zur biologischen Vielfalt“ (2013). Wo nötig und sinnvoll, ist der Einsatz von biologischen Bekämpfungsmethoden zulässig.
6.5 Die Mahd von Wegrändern soll auf ein Mindestmaß reduziert werden.
6.6 Lebensräume für besondere Arten (z.B. Rote-Liste-Arten) sollen auch außerhalb gesetzlich definierter Schutzgebiete erhalten und gepflegt werden.
6.7 Mit dem Ziel der räumlichen Vernetzung von Waldökosystemen wird ein Biotopverbundkonzept etabliert und Fragmentierungen von Wäldern werden, wo möglich, zumindest punktuell überbrückt.
Leitlinie 7: Wassermanagement und Grundwasserneubildung
Die Grundwasserstände im hessischen Ried sind problematisch niedrig und oft unterhalb der Reichweite (Grenzflurabstand) der Baumwurzeln im Gemeindewald. Auch wenn in dieser Situation der Grundwasserstand für den Gemeindewald eine vernachlässigbare Rolle spielen, verhält es sich umgekehrt anders: Ob Wasser aus Regen und fließenden Gewässern im Waldboden versickert (Infiltration), hängt auch von der Waldmanagementstrategie ab. Ziel der Strategie muss auch sein, die Wasserhaltekraft (die sogenannte Feldkapazität) zu erhöhen. Naturnah bewirtschaftete Wälder reichern ihren Oberboden kontinuierlich mit Humus an und erreichen dadurch ein Optimum an Wasserspeicherfähigkeit. Um einer weiteren Grundwasserabsenkung entgegenzuwirken, ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen:
7.1 Regenwasser zurückhalten und zur Versickerung (Infiltration) bringen, soweit möglich. Insbesondere eventuelle Entwässerungseinrichtungen im Wald (z.B. Gräben) werden verschlossen, um das Ökosystem nicht noch zusätzlich zu entwässern; Rückegassen entwässern ebenfalls und sind auch vor diesem Hintergrund auf ein unbedingt nötiges Minimum zu reduzieren.
7.2 Förderung von Infiltration begünstigenden Baumarten (unter Laubbaumarten, v.a. Buche ist sie bis zu 30% höher als unter Nadelbäumen). Einige Baumarten (etwa Douglasie) nehmen mehr Wasser auf als andere heimische Baumarten anstatt es für die Infiltration in den Boden durchzulassen, und sind daher ungeeignet.
7.3 Totholz speichert Wasser wie ein Schwamm. Totholz sollte gezielt eingesetzt werden, um Wasser im Wald zu speichern.
7.4 Möglichkeiten der Infiltration aus Kläranlagen sollten in Zusammenarbeit mit ausgewiesenen ExpertInnen geprüft werden.
Leitlinie 8: Förderung der Beziehung der BürgerInnen zum Wald und der Umweltbildung
Die Menschen brauchen eine engere Beziehung zum Wald und mehr Wissen darüber, um ihre Bindung zu und ihr Engagement für den Wald zu bestärken. Bindung zum und Bildung über den Wald sind nötig, damit sich insgesamt mehr BürgerInnen für den Wald einsetzen, denn nur dann kann die Verwirklichung dieses Leitbildes gelingen. Folgende Handlungen seien dafür empfohlen:
8.1 Die Erschließung des Gemeindewaldes zum Beispiel mit Waldlehr- und Erlebnispfaden, die Kennzeichnung besonderer Bäume, Abteilungsschilder mit Flurnamen oder Wegebezeichnungen sollte gefördert werden. Schulen und Kindergärten sollten eingebunden werden.
8.2 Eine erholungsorientierte Besucherlenkung trägt nicht „nur“ zum Naturschutz bei, sondern fördert auch den Naturgenuss.
8.3 Die Benutzung des Waldes geschieht grundsätzlich auf eigene Gefahr (daraus erfolgt eine Reduzierung von Verkehrssicherungmaßnahmen auf ein absolut nötiges Minimum). Dies gilt insbesondere für waldtypische Gefahren, über die BesucherInnen verstärkt und gezielt aufgeklärt und gebildet werden sollen.
8.4 Generell sollen moderne Angebote der Waldpädagogik (z.B. im Rahmen von VHS-Kursen) für alle Generationen das Informationsbedürfnis der Bevölkerung erfüllen und dazu beitragen, das Wissen rund um den Wald zu stärken und die Wertschätzung des Gemeindewaldes zu fördern.
Leitlinie 9: Künftig mehr Bodenschutz
Der Bodenschutz muss vorrangiges Ziel einer jeden Waldmanagementstrategie sein, denn der Boden ist das Fundament eines jeden Waldes. Zu einem naturnahen Wald gehören vom Menschen nicht beeinträchtigte Böden, die von waldtypischen Bodenlebewesen durchsetzt sind.
Für den Bodenschutz ergeben sich dringende Handlungsempfehlungen:
9.1 Es erfolgt keine Befahrung mit Maschinen abseits bestehender Wege und (bereits in bestehendem Kartenwerk verzeichneter) Rückegassen, da sie den Boden auf lange Zeit stark schädigt: Das Mykorrhiza-Pilzgeflecht wird geschädigt/zerstört, das Wasserspeichervermögen herabgesetzt, Schad- und Stickstoff-Gehalte werden erhöht.
9.2 Neue Rückegassen werden nicht angelegt. Gassen, die einen Mindestabstand von 40 Metern unterschreiten, werden stillgelegt.
9.3 In einzelnen Ausnahmefällen, wenn die Entnahme aus dem Bestand zwingend erforderlich (Verkehrssicherung) und (z. B. aus Arbeitsschutzgründen) nicht anders möglich ist, kann der Maschinen-Einsatz zugelassen werden. Auch dann ist die Befahrung gering zu halten und bodenschonende Verfahren/Zeitpunkte zu wählen.
9.4 Es sollte ein nachhaltiges Konzept für die Bodenschonung entwickelt werden. Wenn möglich, sind Alternativen zum Maschineneinsatz zu bevorzugen, etwa das Rücken mit Pferden oder Seilwinden.
9.5 Eventuelle Entwässerungseinrichtungen im Wald (z.B. Gräben) werden verschlossen, um das Ökosystem nicht zu entwässern
Leitlinie 10: Umsetzung, Einbindung und Begleitung
Die Datenbasis muss über die Daten der Forsteinrichtung hinaus erweitert werden. Insbesondere zu Leitlinien 3 und 4 müssen möglichst zeitnah fundierte Daten erhoben werden und in die Umsetzung eingeleitet, aber auch alle andere Leitlinien müssen durch systematische Datenerfassung weiter konkretisiert, umgesetzt und fortentwickelt werden.
Folgende Handlungsempfehlungen ergeben sich:
10.1 Es erfolgt eine regelmäßige Erhebung von Daten, die notwendig sind, die Umsetzung und ggf. Anpassung des Leitbilds zu messen.
10.2 Bei Unsicherheiten sollte die experimentelle Erprobung verschiedener Vorgehensweisen erwogen und nach wissenschaftlichen Standards umgesetzt werden, insofern der Aufwand dafür vertretbar und angemessen ist.
10.3 Der NABU Seeheim-Jugenheim wird stetig eingebunden, nimmt beratend an den Gemeindewald betreffenden Gremien und Sitzungen teil und unterstützt die Verantwortlichen bei der Erarbeitung konkreter Maßnahmen des Waldökosystem-Managements.
10.4 Weitere ExpertInnen werden bei Bedarf hinzugezogen.
10.5 Forstarbeiten sind nicht an externe Unternehmer zu vergeben.
1 Die Leitlinien und Handlungsempfehlungen basieren auf dem “Bericht des Runden Tisches zum Stadtwald Darmstadt” (2020; zu finden unter anderem hier: https://www.darmstadt.de/fileadmin/PDF-Rubriken/Leben_in_Darmstadt/Stadtgruen/Forsten__Biotopschutz__Stadtbaeume/Bericht_Runder_Tisch_Wald_2021-01-05.pdf )
Kommentarfunktion geschlossen