Wir haben es mit dem größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit vor 65 Millionen Jahren zu tun. Der Mensch ist der Auslöser dieser unglaublich schnell verlaufenden Entwicklung, die nicht nur die Arten akut bedroht, sondern auch uns Menschen.
Ich möchte mich in diesem Beitrag einem Thema widmen, dem innerhalb dieser Problematik noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird: Dem Sterben von vielen und wichtigen Tier- und Pflanzenarten in den Wäldern, insbesondere in den Gemeindewäldern in unserer Umgebung.
Viele Tier- und Pflanzenarten im Wald sind auf das Vorhandensein von Totholz angewiesen. Totholz ist ein entscheidender Schlüssel für die Artenvielfalt im Wald. Es gibt unzähligen Pflanzen- und Tierarten ein Zuhause, von Kleinstorganismen und Insekten über Baumpilze, Moose und Flechten bis zu Spechten und Eichhörnchen, und ist auch Nahrungsquelle vieler Arten. Dabei ist vor allem das stehende Totholz besonders wertvoll, aber es ist auch wichtig, dass es viele verschiedene Arten von Totholz gibt (dick/dünn; stehend/liegend; verschiedene Baumarten). Denn viele Arten sind meist auf eine ganz bestimmte Art von Totholz angewiesen. Viele Lebewesen sind daran beteiligt, dass totes Holz wieder fruchtbarer Waldboden wird. Jedes Lebewesen hängt vom anderen ab. Sie alle arbeiten bei der Gesunderhaltung des Waldes mit.
Der „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ zufolge sind vor allem Tier-, Pflanzen- und Pilzarten gefährdet, die auf typische Strukturen naturnaher Wälder mit Biotop- und Totholz spezialisiert sind, zum Beispiel holzbewohnende Käfer.
Artenvielfalt ist übrigens zusammen mit dem Alter eines Waldes der entscheidende Faktor, ob ein Wald im Klimawandel überleben kann. Alte und artenreiche Wälder können auch besonders viel CO2 aufnehmen und Kohlenstoff speichern.
Schaut man sich an, wie viel Totholz es in Urwäldern oder Naturwäldern gibt, so findet man dort bis zu 400 Festmeter pro Hektar. Der deutsche Wald hat durchschnittlich nur 20,6 Festmeter pro Hektar zu bieten (Bundeswaldinventur 2012). Empfehlungen aus naturwissenschaftlichen Studien geben mindestens 30-60 Festmeter Totholz pro Hektar an, damit eine hinreichende Artenvielfalt ermöglicht werden kann. Laut der Naturschutzleitlinie von HessenForst für den hessischen Staatswald sollen Werte von über 40 Festmeter pro Hektar erreicht werden.
Wie sieht es denn diesbezüglich in den Gemeindewäldern in unserer Region aus? Können sie Arten, die wir zu unserem eigenen Überleben brauchen, Lebensräume bieten?
Ich habe dazu die Forsteinrichtungen der Gemeinden Seeheim-Jugenheim (2016), Bickenbach (2016) und Alsbach-Hähnlein (2016) unter die Lupe genommen. In allen drei Gemeinden liegt der Totholzanteil durchschnittlich unter 3 Festmetern (!) pro Hektar.
Seeheim-Jugenheim: 2,42 Fm/Hektar
Bickenbach: 2,63 Fm/Hektar
Alsbach-Hähnlein: 1,39 Fm/Hektar
Ich gehe davon aus, dass diese Werte im Laufe der letzten Jahre durch die Absterbeerscheinungen etwas zugenommen haben, aber dennoch sicherlich keinesfalls dem Bundesdurchschnitt oder den Empfehlungen der Wissenschaft auch nur ansatzweise nahe kommen.
Wer durch unsere Wälder geht, wird auch wahrnehmen, wie wenig richtig alte Bäume, stehende Totholzbäume und großes liegendes Totholz es gibt. In den Wäldern, die sich seit ein paar Jahren natürlich entwickeln dürfen, wie beispielsweise der Bannwald an den Märchenteichen oder Kernflächen am Melibokus oder Steigerts, kann man einen Eindruck davon bekommen, in welche Richtung sich ein Wald entwickeln müsste, würde man Artenvielfalt zulassen.
Aber woran liegt es, dass diese Werte so erschreckend niedrig sind? Die Ursache liegt in der Art der forstlichen Bewirtschaftung, die über viele Jahrzehnte in unseren Wäldern stattgefunden hat. Statt die Bäume alt werden zu lassen, werden sie im ersten Drittel ihrer Lebenszeit gefällt. Nur ein winzig kleiner Bruchteil von ihnen darf überleben. Das bedeutet: Die mittelalten und alten Bäume gibt es in unseren Wäldern so gut wie nicht mehr. Dabei nimmt die Artenvielfalt erst in der letzten Lebensphase der Bäume so richtig Fahrt auf. Alte Bäume sind die entscheidenden Protagonisten, wenn es um das Überleben der Arten geht.
Der rapide angestiegene Holzkonsum in den letzten Jahrzehnten und der Anspruch, dass ein Wald Geld bringen und keines kosten darf, hat vielen Arten, die auf Totholz angewiesen sind, ihr Zuhause genommen. Sicherlich wurden auch durch die exklusive Beratung durch einen Dienstleister (in allen drei Gemeinden HessenForst), der vorrangig wirtschaftliche Ziele verfolgt, naturschutzfachliche Aspekte und wissenschaftliche Erkenntnisse über Jahrzehnte unterbelichtet. Oft fallen auch wertvolle Höhlenbäume der Verkehrssicherung zum Opfer.
Weitere ältere oder kranke Bäume zu ernten, wie es z.B. im Waldwirtschaftsplan der Gemeinde Seeheim-Jugenheim derzeit vorgesehen ist, ist allein in diesem Zusammenhang kontraproduktiv.
Es ist also allerhöchste Zeit, dass sich etwas ändert. Wollen wir dem Artensterben in unseren Wäldern Einhalt gebieten und damit unsere Wälder erhalten, müssen wir es viel mehr Bäumen erlauben, alt zu werden und in ihrem natürlichen Lebensraum zu sterben. Nur so können wir darauf hinwirken, dass wir auch für zukünftige Generationen den Wert und Schönheit unserer Wälder erhalten können.
Yvonne Albe
NABU Seeheim-Jugenheim e.V. – Waldgruppe
Quellenangaben
Totholz und alte Bäume – kennen, schützen, fördern (Informationsplattform zum Thema Totholz)
Merkblatt der Eidg. Forschungsanstalt WSL
Bütler, Rita; Schlaepfer, Rodolphe: Wieviel Totholz braucht der Wald?
Totholz im Natur- und Urwald. Eidg. Forschungsanstalt WSL
Alte und artenreiche Wälder sind die besten Klimapuffer
Dritte Bundeswaldinventur 2012
Forsteinrichtungen:
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