Sep 232023
 

Informationsveranstaltung mit Blick auf die Landtagswahl – Kein Ausbau der A5, A60 und A67 in Südhessen – Alternative Handlungsoptionen für Verkehrspolitik

Niemand steht gerne im Stau – mehr und breitere Straßen schaffen hier Abhilfe, so die weit verbreitete Meinung zum Thema Straßenbau. In Bickenbach lieferten am 20.9. drei Referenten vielseitige Einblicke dazu sowie zu Verkehrwesen und -politik. Über 80 Interessierte folgten den Vorträgen und diskutierten im Anschluss angeregt über zahlreiche sich daraus ergebende Fragen und Handlungsoptionen.

Zur Veranstaltung eingeladen hatten die Initiative “Verkehrswende Jetzt – Südhessen”, der NABU-Kreisverband Darmstadt und der BUND-Kreisverband Groß-Gerau sowohl Lokalpolitik, Landtagsabgeordnete, Kandidatinnen und Kandidaten zur Landtagswahl als auch die interessierte Öffentlichkeit Südhessens. In  der Anmoderation wiesen Helmut Weick von der Initiative “Verkehrswende Jetzt” und  Mathias Ilker vom BUND Bergstraße auf die große Kluft zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Klimakrise und aktuellen politischen Entscheidungen hin und stellten damit die zentrale Frage der Veranstaltung: Worin liegen diese Erkenntnisse und welche Politik muss sich daraus vernünftigerweise ergeben?

Im ersten Fachbeitrag gab der Vorsitzende des BUND Bergstraße Guido Carl einen Einblick in die Auswirkungen des Autobahnausbaus auf Mensch und Natur: Diese werden allein durch die 21 Projekte in Südhessen, darunter die sechsspurige Verbreiterung der A5, A60 und A67, laut Bundesverkehrsministerium mit zusätzlichen 5,7 Tonnen Feinstaub, 130 Tonnen Stickoxiden und 70.000 Tonnen CO2 pro Jahr belastet – zusätzliche Lärm-, Hitze- und weitere Belastungen hierbei noch gar nicht beziffert. Über 220 ha Wald, Feld und Grünland werden dauerhaft versiegelt, wodurch Artenvielfalt und Kühlfunktionen weiter gemindert werden. Zudem muss gerodeter Wald wieder flächengleich aufgeforstet werden, was in aller Regel zu Lasten der Landwirtschaft geht – wobei der „Ersatzwald“ auf Jahrzehnte ökologisch minderwertig im Vergleich zum Gerodeten sein wird. Carl zeigte anhand von Karten die Wasser-, Vogel- und Naturschutzgebiete Südhessens, die nachhaltig durch die Ausbaupläne in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch deswegen führt der BUND eine Klage gegen den gesamten Bundesverkehrswegeplan (BVWP), da dieser gegen Europäisches Recht und gegen das Klimaschutz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 verstoße.

Den BVWP griff direkt im Anschluss Prof. Dr. Axel Wolfermann von der Hochschule Darmstadt und Scientists for Future auf und erklärte, wie der Plan aufgestellt worden ist: Entsprechend des vor allem anhand von Prognosen zu Bruttoinlandsprodukt und PKW-Bestand errechneten Bedarfs. Da beides absehbar wachse, ergebe sich ein erhöhter Bedarf an Straßen. Mehr Straßen bedeuten in der Folge kürzere Reisezeiten auf der Straße, Verlagerung von anderen Verkehrsformen auf die Straße und eine Zunahme der Verkehrsleistungen – anders ausgedrückt: Mehr Straßen haben zur Folge, dass die Straße attraktiver und mehr genutzt wird. Weiter entfernte Freizeit-, Arbeits- und Einkaufsziele sind leichter erreichbar, Produktionsstandorte können kostengünstig weiter voneinander entfernt betrieben werden. Sowohl Güter- wie auch Individualverkehr ziehen aus dem Straßenbau so viel Nutzen, dass schon auf kurze Sicht eine wiederum verstärkte Auslastung der Straßen vorprogrammiert ist. Der Professor für Verkehrswesen untermauerte diesen Zusammenhang anhand von Zahlenreihen und ging im Anschluss der Frage nach: Sind – ungeachtet dessen – Wirtschaftswachstum und größere Produktvielfalt die zusätzlichen Straßen nicht wert? Der BVWP verrechnet die Zugewinne des Ausbaus im Rahmen einer Abwägung mit einem Teil seiner negativen Auswirkungen und kommt zu dem Schluss: Der Nutzen ist größer als die Kosten. Der methodisch immer wieder kontrovers diskutierte BVWP blendet dabei allerdings systematisch aus, dass funktionierende Ökosysteme nicht nur unsere Lebensgrundlage, sondern auch die Voraussetzung für den errechneten Nutzen selbst sind.

Der BVWP stellt eine eigentlich sinnvolle Zielsetzung auf den Kopf, indem er Wirtschaft über alles stellt und unsere Lebensgrundlagen als gegeben und unveränderlich betrachtet

Anders ausgedrückt: Die BVWP setzt die Kosten falsch an, denn diese werden bei Überschreitung von planetaren Grenzen exponentiell wachsen, während der relative Nutzen immer weiter verringert wird.

Wolfermann legte weitere gravierende methodische Unzulänglichkeiten des BVWP offen und zeigte schließlich rationale Alternativen auf. Zuallererst sollten Optionen, bestehende Straßen effektiver zu nutzen, in Betracht gezogen werden, ein allgemeines Tempolimit etwa:

Ein Tempolimit wäre eine leicht umsetzbare aber hoch wirksame Option einer vernünftigen Verkehrspolitik

Daraus folgend verlangt die Tragweite der Problematik unbedingt zunächst eine umfassende gesellschaftliche Diskussion. Um während dieser Zeit „Fehlinvestitionen“ zu vermeiden, brauche es ein Baumoratorium für den Aus- und Neubau von Straßen, um Alternativen zum Straßenbau gleichberechtigt einzubeziehen. Dabei  dürften die Einbeziehung planetarer Grenzen und die Bedürfnisse zukünftiger Generationen zu völlig anderen Bewertungsergebnissen als bisher führen.

Als dritter Redner thematisierte Dr. Hans Christoph Stoodt von der Bürgerinitiative „Es ist zu laut!”,  den fortgesetzten offenen Verfassungs- und Rechtsbruch der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien in der Verkehrspolitik. Die Ampelkoalition in Berlin breche derzeit das von ihr selbst verabschiedete und nach wie vor geltende Klimaschutzgesetz. Die Regierung begehe damit zudem einen Verfassungsbruch, wurde doch das aktuell geltende Klimaschutzgesetz erst kurze Zeit vor seiner nun vereinbarten Aushöhlung aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts so formuliert, dass nachfolgende Generationen die Möglichkeit bekommen, im Rahmen der Grundrechte der Verfassung leben zu können. Schließlich begehe die Regierung einen Völkerrechtsbruch, weil mit ihren aktuellen Maßnahmen – gerade auch im Verkehrsbereich – die Grenze von 1,5 bis maximal 2 Grad Erderwärmung bis 2100 nicht einzuhalten ist. Auf den BVWP bezogen ist diese „Trias von Gesetzes-, Verfassungs- und Völkerrechtsbruch“ bereits 2021 festgestellt und erst kürzlich wieder von insgesamt sechzig Staatsrechtslehrer:innen moniert worden. Stoodt zeichnete die Klimapolitik der Bundesregierung insbesondere anhand der Aufweichung des Klimaschutzgesetzes nach und resümierte: „Wir haben eine Bundesregierung, die die Zeichen der schnell verrinnenden Zeit nicht erkennt oder nicht erkennen will. Wir reden hier über die Ergebnisse absichtlichen und interessegeleiteten politischen Handelns oder auch Nichthandelns bis hin zum aktiven und öffentlich angekündigten Rechtsbruch. Allein die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Politik allein in Deutschland sind nicht endgültig absehbar, sie werden aber, soviel weiß man schon jetzt, in die Hunderte Milliarden gehen – ganz zu schweigen von den unersetzlichen humanitären und kulturellen Schäden.“

Im Verlauf der Diskussion ging es häufig um Fragen nach Handlungsoptionen der Politik und Einzelner für eine Mobilitätswende. Dabei wurde von einer Zuhörerin auf die Dringlichkeit hingewiesen, denn durch Versiegelung werde nicht nur die globale Klima- und Artenkrise befeuert, sondern auch ganz konkret Hitze und Trockenheit hier vor Ort, das zeigten selbst NASA-Untersuchungen aus dem All. Ebenso wurde die Dringlichkeit durch den Verweis eines Teilnehmers auf die exorbitanten Kosten der Überschreitung planetarer Grenzen (Ökosystemkosten) unterstrichen – diese und andere Fakten bekannter zu machen und argumentativ zu nutzen, liege in der Verantwortung der Politik und jedes Einzelnen. Ebenso müssen auf Bundesebene und insbesondere im Bundestag gegen den BVWP in seiner aktuellen Form alle Register gezogen und vor allem Mehrheiten gewonnen werden, so ein weiterer Diskutant: Das Problem des zerstörerischen Straßenbaus lasse sich mit einem Beschluss im Bundestag für ein Moratorium zum Bundesverkehrswegeplan lösen. Danach wären dann alle Straßenbauprojekte konsequent auf ihre Natur- und Klimaverträglichkeit zu überprüfen. Eine Mehrheit dafür wäre gegeben, wenn die Abgeordneten unabhängig vom Parteibuch oder Koalitionsvertrag rein nach wissenschaftlichen Erkenntnissen entschieden. Ein entsprechender Antrag liegt dem Bundestag bereits vor. Ein weiterer Zuhörer rief angesichts immer wieder zu beobachtender Ratlosigkeit dazu auf, “unruhig zu werden”, Aufklärung und Diskussion zu befördern, Überzeugungsarbeit auf allen Ebenen zu leisten und Mehrheiten zu bilden.

Die Diskussion über Optionen und Dilemmata, bei der sich auch Vertreterinnen und Vertreter aus Parteien beteiligten, sorgte insgesamt für eine lebhafte Debatte, die nach dem langen Abend der Zeit geschuldet “vertagt” werden musste: Es bestand Interesse, die Veranstaltung durch weitere ähnliche fortzusetzen.

Folien zum Vortrag von Guido Carl „Autobahnausbau A5/A60/A67 verhindern“ [pdf].

Folien zum Vortrag von Prof. Dr. Axel Wolfermann „Mobil sein ohne breitere Straßen – dringend nötig und möglich“ [pdf].

Manuskript zum Vortrag von Dr. Hans Christoph Stoodt „Vor uns der Abgrund: der „Rechtsstaat“ in rasender Fahrt vom Autoland in die Klimakatastrophe“ [pdf].

Text: Gunnar Glänzel, Helmut Weick

Fotos: Claudia Müller, Gunnar Glänzel

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