Jun 082023
 

Warum ist er für uns wichtig? Welche Bedeutung haben seine Schutzgebiete?

Vortrags- und Diskussionsabend

Am 1.6.2023 lud das Aktionsbündnis Lautertaler Wald* zu einer öffentlichen Diskussion mit zwei Vorträgen ein. Unter dem Titel „Der Lautertaler Wald in der Klimakrise“ haben der Vegetationsökologe Dr. Christian Storm und der Sprecher der Bürgerinitiative Waldwende-Jetzt! Marcel Hoffmann jeweils einen Vortrag gehalten und anschließend mit dem Publikum diskutiert. 

Rund 60 Interessierte sind der Einladung in die Gadernheimer Heidberghalle gefolgt und wurden vom Vorsitzenden der NABU-Ortsgruppe Elmshausen, Karsten Gutgesell, begrüßt.

Bürgermeister Heun hielt als Schirmherr der Veranstaltung eine Ansprache, bei der er auf die existentielle Krise des Waldes hinwies: “Der aktuelle Waldzustandbericht zeigt, dass 4 von 5 Bäumen geschädigt sind”, führte Heun aus. Bisherige Konzepte zur Waldbewirtschaftung müssen überdacht und der Schutz des Waldes in den Fokus gerückt werden. Aktuell würde die Gemeinde Leitlinien für die 10-jährige Forsteinrichtung zur Bewirtschaftung des Gemeindewaldes entwickeln. Hierfür sei diese Veranstaltung sehr hilfreich.

Vortrag von Dr. Christian Storm, TU Darmstadt

Yvonne Albe vom NABU Seeheim-Jugenheim stellte die beiden Referenten vor und übergab das Wort zunächst dem Biologen Dr. Christian Storm. Einleitend machte er durch ein Zitat von Jonnès deutlich, dass das Schicksal der Menschheit mit dem der Wälder unweigerlich verbunden ist.

„Durch geheime Bande knüpfte die Natur das Schicksal der Sterblichen an das der Wälder.“ (Moreau de Jonnès, 1828)

Unter dem Titel “Warum ist der Wald für uns wichtig? Eine ökologische Perspektive” stellte Storm den Wald als komplexes Ökosystem vor, das aus vielfältigen Strukturen und Prozessen besteht. Deren Zusammenspiel ergibt Ökosystemfunktionen und -kapazitäten, die aus menschlicher Perspektive betrachtet sogenannte Ökosystemdienstleistungen darstellen und uns damit schließlich Nutzen und Werte bringen.

Über 20 solcher Dienstleistungen lassen sich in Beiträge zum menschlichen Wohlbefinden übertragen: Von der Rohstoffgewinnung und Kohlenstoffbindung über die Luftreinigung und -kühlung, verschiedenste Wasser-, Lärm- und Erosionsschutzfunktionen bis hin zu Erholungs- und Gesundheitswerten sowie kulturellen Beiträgen.

Dr. Storm konzentrierte sich seinem Vortrag auf sechs Bereiche:

  1. Roh- und Brennstoffproduktion: Hier muss Storm leider feststellen, dass in den letzten Jahren immer größere Anteile des wertvollen und zunehmend knappen Rohstoffs Holz in die kurzfristige Verwertung und – schlimmer noch – direkt in die Verbrennung gehen. 
  2. Bereitstellung von Trinkwasser: Das Waldmanagement hat Einfluss darauf, wie gut der Wald diese künftig immer kritischer werdende Dienstleistung erfüllen kann.
  3. Hochwasser- und Erosionsschutz: Für das Lautertal besonders relevant – je mehr gesunder Wald mit starken Wurzeln und funktionierender Versickerung, desto besser funktioniert Wald als Schutz gegen Hochwasser und Bodenerosion.
  4. Kühlungsfunktion: Vor allem durch Verdunstung kühlt der Wald enorm – das wird bei steigenden Temperaturen und mehr Hitzewellen immer wichtiger.
  5. Kohlenstoff-Speicherung: Nicht nur im oberirdischen Holz, auch unterirdisch in Wurzeln und in der Humusschicht speichert der Wald mit zunehmendem Alter immer mehr Kohlenstoff und entzieht ihn damit dauerhaft der Atmosphäre – das älteste und best-bewährte Mittel zur Kohlenstoffspeicherung. 
  6. Sozio-kulturelle Dienstleistungen: Der Wald trägt entscheidend zu Schönheit, Eigenart und Vielfalt der Landschaft bei und ist deshalb von unschätzbarem Wert für die Erholung der Bevölkerung und die gesunde Entwicklung von Heranwachsenden. Studien untermauern seine positiven Wirkungen auf die menschliche Gesundheit.

Alle Bereiche werden in der Klimakrise immer entscheidender. Wichtig sei zu verstehen, dass wir priorisieren müssen, denn der Wald kann nicht alles gleichermaßen nebeneinander erfüllen – daher sei das Credo der “multifunktionalen Forstwirtschaft” Storm zufolge weitestgehend überholt. Abschließend zitierte Storm noch Beispiele, wie man diese Dienstleistungen in menschliche Werte – Geld – umrechnen kann, wie es bereits für die Stadtwälder Remscheid und Menden geschehen ist. In beiden Berechnungen zeigt sich jeweils, dass der Geldwert aus Trinkwasserneubildung, Hochwasserschutz, Biodiversität und Erholung um ein Vielfaches größer ist als der Wert an Nutzholz. 

Es zeigt sich also, dass neben dem technischen und menschlichen Kapital der Wald als „Naturkapital“ eine unverzichtbare Grundlage für Wertschöpfung und Wohlstand darstellt. Nur wenn wir funktionsfähige Waldökosysteme erhalten, vermag dieses Ökosystem Wald seine Dienstleistungen als Naturkapital auch künftigen Generationen als „Dividenden“ dauerhaft bereitzustellen.

Vortrag von Marcel Hoffmann,
Waldwende Jetzt! Mittelrheintal

Als Mitgründer der Bürgerinitiative Waldwende-Jetzt! Mittelrheintal beschäftigt sich Marcel Hoffmann seit vielen Jahren mit der Einhaltung von Schutzzielen in den europäischen Natura-2000-Vogel- und FFH-Schutzgebieten. In seinem Vortrag unter dem Titel “Vom zahnlosen Tiger zum scharfen Schwert” [Folien als PDF] stellte er die Schutzgebiete des Lautertales Waldes “Felsberg bei Reichenbach” und “Buchenwälder des Vorderen Odenwalds” in den Fokus. Als Teil des Netzwerks Natura 2000 unterliegen sie der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union und stehen damit prinzipiell unter besonderem Schutz.

In der Praxis mangele es Hoffmann zufolge aber noch an der Umsetzung der Richtlinie. Aus diesem Grunde hat die Europäische Union die Bundesrepublik vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt.

Die Richtlinie benennt konkrete Maßnahmen, wie für diejenigen Tier- und Pflanzenarten, die in den Anhanglisten II und IV der Richtlinie klar unter Schutz gestellt werden, ein strenges Schutzsystem aufgebaut werden muss.

Die Richtlinie definiert außerdem, wie das Management eines Schutzgebietes umgesetzt werden soll. Die Instrumente dafür umfassen konkrete Erhaltungsmaßnahmen, die in Bewirtschaftungsplänen sowie durch Maßnahmen rechtlicher, administrativer oder vertraglicher Art festgelegt werden. Der Vertragsnaturschutz ist eine potenzielle Möglichkeit, Waldbesitzer für Naturschutzleistungen wie z.B. Stilllegungen finanziell zu entlohnen. 

Es muss auch sichergestellt werden, dass sich ein Schutzgebiet nicht verschlechtern darf (Verschlechterungsverbot). Vor einem Eingriff in ein Schutzgebiet muss immer eine FFH-Vorprüfung (auch Erheblichkeitsabschätzung genannt) vorgenommen werden. Bei nur geringem Zweifel, ob sich ein Eingriff negativ auf ein Gebiet auswirken wird, ist eine Verträglichkeitsprüfung verpflichtend.

Aufbauend darauf, was die Richtlinie also grundsätzlich vorgibt, stellte Marcel Hoffmann anschließend fest, dass die eigentlich vorgeschriebenen Maßnahmen bislang unzureichend umgesetzt wurden und werden: So seien aktuelle Bewirtschaftungspläne unbefriedigend und zu allgemein. Der Vertragsnaturschutz könne aktuell nicht umgesetzt werden, da die Stiftung, die Gelder ausschütten soll, derzeit pleite sei. Es gäbe kein zufriedenstellendes Monitoring, so dass Daten zu FFH-Arten fehlen. Ebenso gebe es keine oder nicht präzisierte Erhaltungsmaßnahmen für Lebensraumtypen und Arten. In der Folge seien die Entwicklungen vieler FFH-Arten und Vogelarten ungewiss. Durch Kahlschläge von Nadelbaum-Reinkulturen werden Buchenwald-Lebensraumtypen gefährdet, selbst wenn sie an ein FFH-Gebiet angrenzen. Im FFH-Gebiet Felsberg wurden Altbäume zur Verkehrssicherung gefällt, obwohl keine Pflicht zur Verkehrssicherung im Wald besteht (vgl. BGH, Urteil vom 2.10.2012 – VI ZR 311/11 OLG Saarbrücken, LG Saarbrücken). Da das Strafverfahren der EU gegen Deutschland derzeit läuft, gelte der Grundsatz: Im Zweifel Finger weg von von der EU geschützten Waldgebieten.

Diskussion

In der nachfolgenden Diskussion kamen Interessierte aus Politik, Forst, Naturschutz, Wissenschaft und Bürgerschaft zu Wort. Das Thema Verkehrssicherung versus Naturschutz nahm hierbei eine großen Raum ein. Eine Bürgerin war bestürzt vom Ausmaß der aktuellen Fällungen auf dem Felsberg und fragte, wie es in einem Naturschutzgebiet so weit kommen konnte.

Yvonne Albe vom NABU Seeheim-Jugenheim/Netzwerk Bergsträßer Wald führte aus, dass die Naturschutzverbände alles versucht hätten, um diese Fällungen zu verhindern. Ein Beschluss mit der Mehrheit von CDU und LBL habe aber den Fällungen freie Vorfahrt gegeben. Herr Götz, Mitglied im Gemeindevorstand (CDU) sagte hierzu, die CDU hätte sich auf das Urteil von HessenForst verlassen.

Es meldete sich der frühere Revierförster Dirk Dins, der in Vertretung für Forstamtsleiter Hering gekommen war, zu Wort und betonte, dass HessenForst Dienstleister sei und lediglich den Willen der Gemeinde umsetze. Man habe dort Maßnahmen zu verantworten, die aus früherem Blickwinkel sinnvoll erschienen, sich unter Betrachtung des Klimawandels jedoch als Problem erwiesen haben. Bäume am Felsenmeer zu fällen, wäre keine schöne Arbeit gewesen, finanziell sowieso ein Verlustgeschäft. Auch wenn die Verkehrssicherung im Wald rechtlich nicht bindend sei, so möchte niemand dafür verantwortlich sein, wenn auf dem Felsberg jemand zu Schaden kommt.

Frank Maus von den Grünen Lautertal wies darauf hin, dass jährlich 200 000 Touristen das Felsenmeer besuchen und man aufgrund dessen in einem Spannungsfeld stehe. Dr. Storm verwies auf die Möglichkeit der Totholzentfernung durch Hebebühnentechnik, um Bäume zu erhalten. Der Wald müsse gerade jetzt um jeden Preis erhalten bleiben, dafür dürften finanzielle Argumente nicht ausschlaggebend sein. Eine weitere Destabilisierung des Waldes habe fatale Konsequenzen, denn die freigestellten Buchen wären von immer weiteren Trockenschäden betroffen, der Walderhalt dadurch insgesamt in Gefahr. Diese Gefahr sah auch Martin Bertram, Forstwissenschaftler, der darauf hinwies, dass ein junger, schnell wachsender Wald zwar mehr CO2 aufnehme als ein alter mit großen Holzvorrat, letzterer aber insgesamt mehr Kohlenstoff speichere, so dass Altbestände durch größere Holzmasse mehr zum Klimaschutz beitragen – zudem sei Auf- und Jungwuchs viel stärker Risiken wie Hitze, Trockenheit und Wildverbiss ausgesetzt. Er riet zur Zäunung von einzelnen Bereichen, um den Jungwuchs zu fördern, was auf breite Zustimmung stieß.

Herr Heun, Frank Maus und Herr Adam (CDU, Vorsitzender der Gemeindevertretung) informierten die Bürger über die bereits angestoßenen Prozesse zum Runden Tisch Wald, bei denen Politiker aus allen Parteien wegweisende Entscheidungen für den Lautertaler Gemeindewald und seinen Schutzgebieten treffen werden. Ein wichtiger Schritt sei laut Heun, dass man sich bereits darauf geeinigt hätte, 15 Prozent des Waldes nicht mehr forstwirtschaftlich zu nutzen.

Alle Redner wurden am Schluss der Veranstaltung mit Lautertaler Honig von Ulrich Rieckher (NABU Beedenkirchen) und mit dem Buch von Yvonne Albe „Geheimnisse der Waldfotografie“, in dem viele Fotos aus den Wäldern des Lautertals abgebildet sind, beschenkt. Die Veranstalter haben sich sehr über das überwältigende Interesse aus breiten Teilen der Bevölkerung gefreut, mit dem man nicht gerechnet habe. Alle waren sich einig, dass es wichtig und gut ist, wenn man miteinander ins Gespräch kommt, um den Wald auch für zukünftige Generationen zu erhalten.

Fotos: Oliver Oswald, Siegfried Graumann, Tino Westphal, Gunnar Glänzel, Yvonne Albe

Bericht: Gunnar Glänzel und Yvonne Albe

Hoffmann, Marcel (2023): VOM ZAHNLOSEN TIGER ZUM SCHARFEN SCHWERT. Vortrag von Marcel Rolf Hoffmann – Bürgerinitiative Waldwende-Jetzt! Mittelrhein. Lautertal, 1.6.2023.

* Das Aktionsbündnis Lautertaler Wald wurde 2022 gegründet. Bürger, Naturschutzvereine und Bürgerinitiativen haben sich zusammengeschlossen, um sich für den Erhalt des Lautertaler Waldes einzusetzen. Dem NABU Beedenkirchen, Elmshausen und Seeheim-Jugenheim sowie dem Netzwerk Bergsträßer Wald haben sich mittlerweile weitere Naturschutzgruppen angeschlossen: Mitglieder des NABU Kreisverbands Bergstraße, des BUND Bensheim/Zwingenberg, von Greenpeace und engagierte Bürger wollen sich gemeinsam für einen ökosystemorientierten und zukunftsgewandten Umgang mit dem Lautertaler Wald stark machen.

Kontakt:
Karsten Gutgesell (NABU Elmshausen), karstg@hotmail.de,
Yvonne Albe (NABU Seeheim-Jugenheim), yvonnealbe@gmail.com

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