Okt 152024
 

Gemeinsame Pressemitteilung des NABU Beedenkirchen, NABU Bergstraße, NABU Seeheim-Jugenheim, Netzwerk Bergsträßer Wald

Das prachtvolle Naturdenkmal endet nach 230-300 Jahren in einem nur 2 Tage andauernden Kampf als Torso. 

Die Linde am alten Friedhof wurde einst vom Kreisausschuss als „stärkste Linde im Landkreis Bergstraße und von besonderer Schönheit“ ausgezeichnet und erhielt den Status als Naturdenkmal. 

Trotz ihres hohen Alters und teilweise hohlem Stamm war sie bis in die äußersten Äste vital – eine Ausnahmeerscheinung in Zeiten von Klimawandel und Baumsterben. 

Sie teilte sich in 3 Einzelstämme auf. Aus einem brach nun jüngst bei einem Sturm ein Stück heraus. 

Die Untere Naturschutzbehörde wollte für Verkehrssicherheit sorgen und ordnete die Fällung für den 4. Oktober an. Bürger und Naturschutzverbände erfuhren davon nur 2 Tage vorher durch die Presse, von denen einer ein Feiertag war. 

Viele Bürger, Naturschutzverbände und Bürgerinitiativen wurden innerhalb kurzer Zeit aktiv und kommunizierten mit der zuständigen Unteren Naturschutzbehörde, Bürgermeister Heun und dem Kreisbeigeordneten Matthias Schimpf in Gesprächen und Mails. Dass Verkehrssicherheit hergestellt werden musste, bezweifelte niemand, doch die Gesamtfällung im Eilverfahren kam  vielen, die den Baum noch einmal in Augenschein nahmen, als wenig überlegt und überzogen vor. 

Ulrich Rieckher vom NABU Beedenkirchen stieß bei seinen Bitten, zunächst für die Verkehrssicherheit nur dringend notwendige Beschnittmaßnahmen vorzunehmen, um dann erneut zu prüfen, wie essentielle Teile des Baumes erhalten werden können, bei der UNB auf Widerstand. Mailanfragen von Mitgliedern des NABU Seeheim-Jugenheim, Netzwerk Bergsträßer Wald blieben unbeantwortet. Auch die Grünen Lautertal wandten sich in Wort und Schrift an die Entscheidungsträger. Yvonne Albe vom NABU Seeheim-Jugenheim dokumentierte die Linde einen Tag vor dem Eingriff und die Schnittarbeiten an der Linde fotografisch und filmisch. Die Biologin und Expertin für Flechten und Moose Dr. Dorothee Killmann von der Universität Koblenz analysierte die Bilder von auf Ästen und Zweigen befindlichen Flechten und fand seltene und nach Bundesartenschutzverordnung geschützte Flechtenarten aus der Gruppe der Schlüsselflechten. Es wurden auch Totholzkäfer, Insektenfraßlöcher und Höhlungen gefunden. Sie schlussfolgerte: „Eine Fällung ohne Beachtung des Artenschutzes für Moose und Flechten ist meines Erachtens ein Verstoß gegen die Bundesartenschutzverordnung. Darüber hinaus könnte ein solch alter Baum auch ein Lebensraum für andere seltene Arten, z.B. für Fledermäuse sein, und dann wäre sogar die FFH-Richtlinie bzw. das FFH-Recht betroffen.“

Annette Modl-Chalwatzis vom NABU Bergstraße, bei der ebenfalls etliche Anrufe von Bürgern eingingen, und Yvonne Albe forderten ein Artenschutzgutachten. 

Der NABU Beedenkirchen und NABU Seeheim-Jugenheim boten zudem an, sachgemäße Pflegearbeiten am Baum zu finanzieren. 

Erst durch Kontakt mit dem Kreisbeigeordneten Matthias Schimpf, der prompt antwortete und nach Einschätzung von Beteiligten die prekäre Situation erkannte, wurde auf seine Weisung die „Fällung“ in eine „Kronenreduktion“ geändert, damit laut Pressemitteilung „Im Anschluss Hinweise von Umweltverbänden sowie Bürgerinnen und Bürgern geprüft werden [sollen], die unter anderem den Bestand von seltenen Flechten an dem Baum betreffen.”

Am Morgen des Eingriffs fanden sich einige Bürger und Akteure ein und wiesen Arbeiter des durchführenden Unternehmens auf den geänderten Arbeitsauftrag und die geschützten Spezies in der Krone des Baumes hin. 

Dass es nicht bei der angeordneten Reduktion der Krone blieb, zeigte sich nach Abschluss der Arbeiten mit schwerem Gerät: Es blieb lediglich ein Torso der Linde übrig. Die gesamte Krone wurde abgetragen, schützenswerte Arten im Kronenbereich wurden in Lastwagen geworfen und abgefahren.

Baumpfleger Gret Thaler und Brigitte Hutzl aus Neunkirchen äußern Unverständnis für das Vorgehen. “Da bei einem Baum diesen Alters mit Untermietern zu rechnen ist, hätte vor Beginn der Arbeiten eine Artenschutzüberprüfung stattfinden müssen. Mit einer moderaten Einkürzung (um ca. 6 m) der über die Straße reichenden Kronenteile wäre die Verkehrsicherung vorrübergehend hergestellt worden und hätte zudem Zeit gelassen für eine genaue Untersuchung des Stamminneren und der Äste (Flechten) durch einen Gutachter (kein Kontrolleur). Der hätte dann auch klare Richtlinien für durchzuführende Schnittmaßnahmen geliefert.”

Die Baumsachverständige Daniela Antoni, die durch soziale Medien auf den Fall aufmerksam wurde, meint dazu: „Beim Wort „Verkehrssicherheit“ spielt sofort Angst eine Rolle, obwohl das leicht entkräftet werden kann, aber eben nur mit entsprechender Fachexpertise. Wir verlieren täglich so viele Stadt- und Dorfbäume durch diese Situationen vor Ort.“

Der gesamte Vorgang und die gemarterte Linde lässt viele Beteiligte und Bürger fragend zurück. 

Die Naturschutzverbände fordern nun eine Aufklärung der Bevölkerung über die internen Vorgänge. 

Dabei sind folgende Fragen zu klären: Warum sollte ein Naturdenkmal, das den höchsten Schutzstatus und zudem kulturellen und historischen Wert besitzt, ohne viel Federlesens restlos entfernt werden? Ist vorab eine ausführliche diagnostische  Überprüfung des Naturdenkmals erfolgt? Warum wurde keine Artenschutzprüfung vorgenommen, die man bei einer kurzfristigen Sperrung der Straße oder Beseitigung der größten Gefahr hätte vornehmen können? Wurde die Gemeinde Lautertal als Baumbesitzer bzw. der Gemeindevorstand in die Entscheidung eingebunden? Warum wurde die Anordnung des Kreisbeigeordneten Herrn Schimpf von dem beauftragten Unternehmen nicht umgesetzt (Kappung statt Kronenreduktion)? 

Die Verbände planen, Auskunft nach dem Informationsfreiheitsgesetz Hessens nach Paragraph 80 und 85 zu beantragen. 

Die Vitalität des Baumes sei nicht mehr zurückzuholen, dieser Fall könne nach Ansicht der Akteure aber dazu dienen, behördliche Vorgänge im Umgang mit Naturdenkmälern zu prüfen und zu verbessern.

Dieser Baum, der jahrhundertelang das Leben der Beedenkirchener begleitete, im Laufe seines langen Lebens Unmengen CO2 speicherte und vielen Tier- und Pflanzenarten ein Zuhause gab, habe mehr Achtung verdient – in vielerlei Hinsicht. 

„Ich weiss jetzt auch, was „ortsbildprägend“ ist, äußerte sich der Umweltpreisträger Holger Zinke zu dem Fall. “Aus allen Perspektiven sieht Beedenkirchen verändert aus. Naturdenkmale können auch Kulturdenkmale sein und umgekehrt. Dass nun eine solche Ruine (Torso ist ein netterer Begriff) am Ortseingang in einem (vermutlich unter Denkmalschutz stehenden) Friedhof aus dem 18./19. Jahrhundert steht, ist sehr lehrreich für den gesellschaftlichen Umgang mit derlei, auch über den Natur- und Artenschutz hinaus.“

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